Mittwoch, 5. Dezember 2018

Zeit zurückzufinden – Zu Fuß durch Europa



Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo er bleibt. Und da überraschte er mich doch noch: Der Kulturschock. In Europa gelandet sind mir als erstes 3 Dinge aufgefallen: 1. Alles ist wahnsinnig strukturiert. 2. Es ist bald Weihnachten. (Ich hatte scheinbar mein Zeitgefühl unterwegs verloren.) 3. Überall ist Werbung, wohin man auch schaut – ohne jeglichen Sinngehalt. Für mich erschien Argentinien im Vergleich zu anderen Ländern schon recht westlich, aber das hier erschlug mich.

In Mailand angekommen wusste ich weder, wo ich übernachte, was ich mache, noch wie ich nach Deutschland zurückkommen werde. An meinem planlosen Reisen hatte sich nichts geändert. Ich wollte einen langsamen Weg nach Hause, um dieses Jahr voller Eindrücke und Erlebnisse gut ausklingen zu lassen. So machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Doch was ist mit dem Gepäck? 20 kg! Das war alles, was von diesem Jahr übrig blieb. 20 kg, die wohl oder übel mit mir auf Wanderschaft mussten. So wanderte ich von Ort zu Ort so lange mich meine Beine trugen. Nichts war geplant – weder die Strecken noch Unterkünfte. Ich lief einfach los – gezielt ziellos – und fand meinen Weg.

Das verregnete und bewölkte Mailand (ein Ort der Schönen und Reichen) verließ ich recht schnell. Ich schnappte mir meinen Rucksack und suchte eine Route entlang des Lago di Como im Norden Italiens. Da stand ich nun: An einem kleinen Bahnhof in Varenna umgeben von Wald, Bergen und dem See. Ich lief bergauf Richtung Norden. Die Schwere des Rucksacks lastete auf meinen Schultern. Hatte ich mir das gut überlegt? Wo muss ich lang? Wo werde ich schlafen? Fragen kreisten mir im Kopf. Schritt für Schritt schleppte ich mich durch die schmalen gepflasterten Gassen zwischen alten kleinen Steinhäusern und mit Pflanzen überzogenen hohen Mauern. Alles wirkte verlassen und menschenleer. Vorbei an verfallenen Hütten im Wald verlor sich der Weg im Nirgendwo. Es begann zu dämmern und langsam wurde ich innerlich unruhig. Ich konnte nicht mehr und mein Knie begann wieder zu schmerzen. Humpelnd bahnte ich mir durch Matsch und Laub den Weg nach unten. Ich dachte, es könne nicht schlimmer werden, bis ich den Hund sah, welcher mir den Weg versperrte. Bellend und knurrend kam er auf mich zu. Ich kam langsam zum Stehen, nahm für alle Fälle vorsichtig meinen schweren Schneeschuh von der Seite des Rucksacks und sprach ruhig auf ihn ein. Er verlor das Interesse und ich schlich mich an ihm vorbei. Und da fand ich sie letztendlich doch: Die Straße… Ein Glück!
 
Die folgenden Tage waren glücklicherweise etwas weniger abenteuerlich. So lief ich an diesen sonnigen Novembertagen voller Motivation entlang der Berghänge mit Blick auf den See, die sich am Ufer reihenden Dörfer und die schneebedeckten Berge. Der Rucksack war kaum noch zu spüren. In den Orten fragte ich die Einheimischen nach Übernachtungsmöglichkeiten. So kam ich bei italienischen älteren Ehepaaren, Musikern und Buchautoren, Kneipenbesitzern, aber auch bei Freunden unter. Mit so vielen guten Gesprächen hätte ich nicht gerechnet. Ich lernte Menschen kennen, die ihre Träume verwirklicht haben – trotz unmöglichster Hürden. Diese Gespräche haben mich angesteckt. Ich freue mich immer mehr auf all meine neuen Vorhaben.

Durch eine malerische Landschaft führte mein Weg in die Schweiz zu Nadia, einer Freundin, welche ich auf der Reise kennengelernt habe. Sie wohnt in dem kleinen verschneiten Bergdorf Samedan. In einem nahe gelegenen Ort entsteht gerade eine Eis-Stupa – eine Art künstliche Gletscher. Die Idee stammt aus dem indischen Ladakh als Wasserspeicher. In Bergregionen sollen die Eiskonstrukte den Erhalt von Gletschern und Gewässern unterstützen. Hier in Morteratsch soll damit v.a. auf den Gletscherrückgang aufmerksam gemacht werden. (Seit 1878 hat der Gletscher über 2 km Länge eingebüßt.) Dieses Gemeinschaftsprojekt ist nicht nur nützlich, sondern auch wunderschön anzusehen…

Über das alpine Gelände gehend gelangten wir weiter zu einer Gletscherhöhle. Keine einzige Fußspur war mehr im Schnee zu finden. Vorsichtig stapften wir Schritt für Schritt näher zu einem Gletschervorsprung. Ob hier schonmal jemand gewesen ist? Als ich in die Gletscherhöhle hinschaute, glaubte ich meinen Augen nicht. Unter einer zugefrorenen glasklaren Eisschicht floss noch immer eine Wasserquelle bis hin zu einem Wasserfall. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich fühlte mich wie auf Forschungs-Expedition. 

Es tat gut, mit Nadia zu reden und das Jahr bei Käsefondue, Glühwein und Schneewanderungen entspannt ausklingen zu lassen. Ich ging gedanklich nochmal um die ganze Welt. Glücklich und dankbar. Wie so oft fügte sich auch in diesem letzten Reiseabschnitt alles von selbst. Das ganze Jahr habe ich versucht, die Dinge offen und ohne Vorbehalte auf mich zukommen zu lassen. Für mich ist das die schönste Art zu reisen, da mir unerwartet die unvergesslichsten Momente und Abenteuer geschenkt wurden. 

Nun ist mein Rucksack voll mit Geschichten. Zeit heimzukommen.

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